Zum ersten Mal: LATEX IN PUBLIC
Es ist kurz nach 16 Uhr. Nachdem ich alltägliche Arbeiten erledigt habe, mache ich eine Pause. In etwa einer Stunde werde ich mit den Vorbereitungen für einen Auftritt beginnen, den ich am Abend haben werde. Eine Aufregungswelle überkommt mich. Ich kenne diese Wellen. Sie besuchen mich immer vor einem Auftritt. Sie sind heute nicht stärker als sonst, obwohl ich heute etwas zum ersten Mal tun werde. Ich wurde vor einigen Monaten eingeladen, gemeinsam mit anderen Künstler*innen eine Improvisation im öffentlichen Raum zu gestalten. Die organisierende Künstlerin wünschte sich eine Tanzimprovisation in der Gestalt von „TheCreature“ von mir. „TheCreature“ entwickelte sich aus meinen Bewegungsstudien mit Latex. Ich experimentierte u.a. mit Elementen, die Bewegungsqualitäten und -arten verändern, wie z.B. einem eng geschnürten Korsett. Diese Elemente und das Material sind inzwischen ein fester Bestandteil meines Ausdrucks geworden und ich freute mich sehr über die Einladung. In den letzten Tagen schlich sich jedoch ein merkwürdiges Gefühl ein und mir wurde allmählich bewusst, dass ich dieses Outfit, das im Wesentlichen aus einem schwarzen Catsuit, einem Korsett und einer Maske besteht, zum ersten Mal in einem öffentlichen Raum tragen werde, der nicht den sicheren Rahmen einer Galerie oder eines Theaters bieten würde.
Ich werde heute an einem zentralen gelegenen, belebten Platz der Stadt, in der ich lebe, zu einer Uhrzeit, zu der bei gutem Wetter die Außengastronomie der anliegenden Restaurants sehr gut besucht ist, in einem klassischen Latex-Fetisch-Outfit auftauchen. Was habe ich mir dabei gedacht?!
Nichts!
Ich beobachte mich selbst. Die Wellen der Aufregung kommen und gehen, während ich mich in Schale werfe. Ich packe die Maske, das Halskorsett, eine Flasche Wasser und noch ein paar Kleinigkeiten in meine Tasche und verlasse das Haus. Umso näher ich dem Ort des Geschehens komme, desto ruhiger werde ich. Auf meinem Weg begegne ich vielen Menschen, die kaum Notiz von meiner Erscheinung nehmen. Vor Ort werde ich herzlich begrüßt. Einige der anwesenden Künstler*innen äußern ihre Freude darüber, dieses „Kostüm“ endlich einmal live zu sehen, sie sahen es bisher nur in Videos. Als wir mit der Performance beginnen, bleiben viele Menschen stehen und fotografieren oder filmen uns. Und ich bin nach wie vor ruhig, fühle mich wohl und sicher. Möglicherweise liegt es daran, dass die Menschen mir freundlich und zugewandt begegnen. Möglicherweise liegt es auch daran, dass ich mich mit mir sicher fühle. Möglicherweise bekomme ich negative Kommentare einfach nicht mit. Was ich sicher weiß: „Latex in public“ mag ich.
ENDE
„Nein, nein, nein, du hast den Artikel nicht fertig geschrieben. Du enthältst den Leser*innen etwas vor, Anja.“ sagt mir der Redakteur, der meinen Artikel redigiert hat, am Telefon.
Hä…äh…erwischt! Es stimmt. Es ist das große WARUM. Warum fühlte ich mich sicher und wohl? Wie habe ich das gemacht? Die Antwort, die ich jetzt schreiben würde, klänge ur kompliziert. Ich würde was von Werten erzählen, die gleichsam mein ethisches Rückgrat und mein innerer „safe space“ sind. Und von Kohärenz und Inkongruenz würde ich sprechen. Kompliziertes Formulieren ist bei mir immer ein Hinweis darauf, dass ich etwas noch nicht vollkommen durchdrungen und begriffen habe. Ich bin noch damit beschäftigt und habe noch keine kurze und knackige Antwort darauf. Aber ich werde sie finden. Und dann werde ich sie mit Euch teilen. Versprochen!
Foto: DBK